Wenn es um die biblische Endzeitlehre geht, spielt für viele das Handeln des Antichristen eine entscheidende Rolle. Dabei wird angenommen, dass nach der Entrückung der Gemeinde eine siebenjährige Trübsalszeit beginnt, in welcher der Antichrist seine Herrschaft aufrichten wird. Ferner wird geglaubt, dass er einen Bund mit der Nation Israel schließen wird, um ihn dann zu brechen und die Nationen gegen Jerusalem in den Krieg zu führen. Diese Sichtweise eines personifizierten Antichristen basiert man weniger auf Stellen, die tatsächlich vom Antichrist sprechen (der griechische Begriff antichristos kommt nur 5 mal in der Schrift vor), sondern mehr auf einem Konzept das man dem „Tier aus dem Meer“ aus Offenbarung 13 und dem König bzw. Fürsten aus Daniel 7 und Daniel 9 entlehnt (eine Auslegung zu Daniel 9 ist in diesem Beitrag zu finden). Dabei ändern Ausleger dieser Sichtweise häufig ihre Meinung bezüglich der Identität dieser Person. So wurden schon von den unterschiedlichsten Päpsten des Mittelalters bis hin zu den Diktatoren der Neuzeit, verschiedenste Menschen als Antichrist identifiziert, nur um sie dann zu verwerfen, wenn sie wieder von der Weltbühne verschwanden. Bei einer solchen Auslegung interpretiert man also die Bibel mehr durch die Brille aktueller Ereignisse und lässt sie sich weniger selbst erklären. Allerdings macht eine solche Herangehensweise an den Text den Großteil der Offenbarung für die ursprünglichen Empfänger des 1. Jhdt. irrelevant und öffnet Tür und Tor für das Hineinlesen von tagesaktuellen Geschehnissen in die Schrift. Besser ist es die Bibel selbst die Auslegung von prophetischen Texten übernehmen zu lassen und schwierige Passagen von klareren Stellen beleuchten zu lassen. Darum wollen wir uns im Folgenden bemühen und uns die Stellen anschauen, die vom Antichristen sprechen, um uns ein biblisches Bild über seine Identität und sein Handeln zu verschaffen.
Die Kennzeichen des Antichristen
Alle Stellen, die den griechischen Ausdruck antichristos verwenden, finden wir in den ersten beiden Briefen des Apostel Johannes wieder. In 1. Johannes 2 erinnert der Apostel seine Leser daran, dass sie gehört haben, dass der Antichrist kommen wird (2. Thess. 2,3-12) und das schon jetzt viele Antichristen präsent sind:
Kinder, es ist die letzte Stunde, und wie ihr gehört habt, dass der Antichrist kommt, so sind auch jetzt viele Antichristen aufgetreten; daher erkennen wir, dass es die letzte Stunde ist. Von uns sind sie ausgegangen, aber sie waren nicht von uns; denn wenn sie von uns gewesen wären, würden sie wohl bei uns geblieben sein; aber ⟨sie blieben nicht,⟩ damit sie offenbar wurden, dass sie alle nicht von uns sind. Und ihr habt die Salbung von dem Heiligen und habt alle das Wissen. Ich habe euch nicht geschrieben, weil ihr die Wahrheit nicht kennt, sondern weil ihr sie kennt und ⟨wisst⟩, dass keine Lüge aus der Wahrheit ist. Wer ist der Lügner, wenn nicht der, der leugnet, dass Jesus der Christus ist? Der ist der Antichrist, der den Vater und den Sohn leugnet. Jeder, der den Sohn leugnet, hat auch den Vater nicht; wer den Sohn bekennt, hat auch den Vater.
1. Johannes 2,18-23
Der Begriff antichristos bedeutet gegen oder anstelle von Christus und wird von Johannes in diesen Versen auf falsche Bekenner angewendet, die einmal Teil der sichtbaren Gemeinde Jesu waren, aber dann abgefallen sind und die Gemeinde verlassen haben. Johannes charakterisiert sie als „nicht von uns; denn wenn sie von uns gewesen wären, würden sie wohl bei uns geblieben sein“ (Vers 19). Das heißt, sie waren niemals echte Gläubige und damit auch nicht vom Geist wiedergeboren. Vielmehr handelt es sich um falsche Lehrer, die leugnen, dass Jesus der Messias, also der Erlöser und Retter Gottes, ist.
An dieser Stelle ist anzumerken, dass für Johannes der Antichrist, kein ausschließlich zukünftiges Konzept ist, sondern, dass er ihn schon jetzt in Form dieser falschen Lehrer auftreten sieht. Das bestätigt uns auch die nächste Stelle, die den Begriff antichristos verwendet:
Hieran erkennt ihr den Geist Gottes: Jeder Geist, der Jesus Christus, im Fleisch gekommen, bekennt, ist aus Gott; und jeder Geist, der nicht Jesus bekennt, ist nicht aus Gott; und dies ist der ⟨Geist⟩ des Antichrists, von dem ihr gehört habt, dass er kommt, und jetzt ist er schon in der Welt.
1. Johannes 4,2-3
In diesen Versen spricht Johannes über den Geist des Antichristen und sagt, dass er Jesu Menschwerdung und sein Kommen im Fleisch leugnet. Dabei dachte Johannes bei dieser Charakterisierung wohl zuerst an die gnostischen Irrlehrer seiner Zeit, die unter anderem lehrten, dass Jesus, obwohl er auf der Erde präsent war, niemals wahrer Mensch war (diese Irrlehre entspringt einem philosophischen Dualismus, der behauptet, dass die Materie böse und der Geist gut sei und Gott deshalb nicht in die böse Materie kommen konnte). Damit präzisiert Johannes die falsche Lehre des Antichristen und macht eine Leugnung, dass „Jesus nicht im Fleisch gekommen ist“, zu einem entscheidenden Kriterium.
Ein Antichrist oder viele?
Auch in seinem zweiten Brief greift der Apostel Johannes das Thema des Antichristen auf und warnt vor falschen Verführern:
Denn viele Verführer sind in die Welt hinausgegangen, die nicht Jesus Christus, im Fleisch gekommen, bekennen; dies ist der Verführer und der Antichrist.
2. Johannes 7
Johannes definiert in diesem Vers Menschen, „die nicht Jesus Christus, im Fleisch gekommen bekennen“ als Antichristen. Dabei redet er nicht von einem einzelnen Antichristen, der am Ende der Zeit auftritt, sondern von vielen Verführern, die „in die Welt hinausgegangen sind“. Auch Jesus selbst warnte in seiner Endzeitrede nicht vor einem einzelnen Antichristen, sondern vor vielen.
Und wenn dann jemand zu euch sagt: Siehe, hier ist der Christus! Siehe dort!, so glaubt nicht! Es werden aber falsche Christusse und falsche Propheten aufstehen und werden Zeichen und Wunder tun, um, wenn möglich, die Auserwählten zu verführen.
Markus 13,21-22
Die Suche nach dem Antichristen sollte sich also nicht auf eine Einzelperson beschränken, sondern muss sich auf viele ausdehnen. Sie darf sich auch nicht nur auf die Welt beziehen, sondern muss die Gemeinde miteinschließen aus der letztlich die abgefallene Kirche hervorging. Wie uns Jesus lehrt stehen dort nämlich zuerst die falschen Propheten und Christusse auf, um die Gläubigen zu verführen und wenn möglich zum Abfall zu bringen.
Diese Warnung Jesu vor vielen Verführern deckt sich mit der Aussage des Apostel Paulus, der sagt, dass vor dem Tag des Herrn noch „der Abfall kommen und der Mensch der Gesetzlosigkeit geoffenbart werden muss“ (2. Thess. 2,3). Vor der Wiederkunft Christi muss also noch eine Abkehr vom wahren Evangelium stattfinden, die eine bestimmte Art von Mensch offenbart, der nicht echt im Glauben ist. Das ist der Antichrist, der „leugnet, dass Jesus der Christus ist“ (1. Joh. 2,22) und andere vom biblischen Heilsweg zu einem falschen Evangelium abzieht. Auch wenn sich dieser Geist des Antichristen zukünftig noch in einer einzelnen Person besonders stark manifestieren kann, so sprechen doch die biblischen Texte mehrheitlich von einer ganzen Verführungsbewegung innerhalb der Christenheit, die das wahre Evangelium ablehnt und es systematisch bekämpft.
Identifikation des Antichristen
Das Wesen und das Wirken dieser abgefallenen Kirche wird uns in Offenbarung 13 in Form des „Tieres aus der Erde“ gezeigt.
Und ich sah ein anderes Tier aus der Erde aufsteigen; und es hatte zwei Hörner gleich einem Lamm, und es redete wie ein Drache. Und die ganze Macht des ersten Tieres übt es vor ihm aus, und es veranlasst die Erde und die auf ihr wohnen, dass sie das erste Tier anbeten, dessen Todeswunde geheilt wurde. Und es tut große Zeichen, dass es selbst Feuer vom Himmel vor den Menschen auf die Erde herabkommen lässt; und es verführt die, welche auf der Erde wohnen, wegen der Zeichen, die vor dem Tier zu tun ihm gegeben wurde, und es sagt denen, die auf der Erde wohnen, dem Tier, das die Wunde des Schwertes hat und ⟨wieder⟩ lebendig geworden ist, ein Bild zu machen. Und es wurde ihm gegeben, dem Bild des Tieres Odem zu geben, sodass das Bild des Tieres sogar redete und bewirkte, dass alle getötet wurden, die das Bild des Tieres nicht anbeteten. Und es bringt alle dahin, die Kleinen und die Großen, und die Reichen und die Armen, und die Freien und die Sklaven, dass man ihnen ein Malzeichen an ihre rechte Hand oder an ihre Stirn gibt; und dass niemand kaufen oder verkaufen kann, als nur der, welcher das Malzeichen hat, den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens. Hier ist die Weisheit. Wer Verständnis hat, berechne die Zahl des Tieres! Denn es ist eines Menschen Zahl; und seine Zahl ist 666.
Offenbarung 13,11-18
Nachdem uns Offenbarung 12 den großen Drachen (= Satan) vorstellt und uns Offenbarung 13,1-10 sein „Tier aus dem Meer“ (= antichristliche politisch-militärische Reiche) mit dem er die Gläubigen verfolgt, präsentiert, liegt in den Offenbarung 13,11-18 der Fokus auf seinem Tier aus dem Meer. Dieses Tier, das auch als der falsche Prophet bezeichnet wird (Offb. 16,13; 19,20; 20,10), sieht aus wie ein Lamm, aber redet wie ein Drache. Das Tier aus dem Meer hat also den Anschein unser Herr Jesus Christus zu sein, der das wahre Gotteslamm ist. Es ist aber letztlich nur eine falsche Kopie unseres Heilands, das nicht wirklich rettet. Das Tier aus der Erde ist also eine Parodie unseres Herrn Jesus, das ihn lästert, indem es alle dazu bringt das Tier aus dem Meer zu verherrlichen. Dementsprechend tut es Zeichen und Wunder, um Menschen zu verführen, ihre Loyalität und Anbetung nicht Christus, sondern dem ersten Tier zu geben. Dabei kommt sein Auftrag und seine Vollmacht vom Satan selbst, dessen Botschaft es weitergibt und dem es nachspricht.
Vom Propheten Daniel lernen wir, dass die Tiere für menschliche Reiche und ihre Machthaber stehen (Dan. 7,17.23). Während also das Tier aus dem Meer die verschiedenen antichristlichen, politischen Reiche dieser Welt repräsentiert, symbolisiert das Tier aus der Erde die falschen, religiösen Mächte. Der falsche Prophet steht also sinnbildlich für die falsche Religion und seine Antichristen, die zwar „eine Form der Gottesfurcht haben, ihre Kraft jedoch verleugnen“ (2. Tim. 3,5).
Das biblische Konzept des Antichristen beschreibt also nicht primär eine zukünftige Person, sondern eine ganze Verführungsbewegung, die schon jetzt am Werk ist. Um sie und ihre Lehre zu identifizieren muss man nicht lange suchen: Egal ob es jetzt Sekten sind, welche die Gottheit Jesu ablehnen oder staatliche anerkannte Kirchen, die in ihren Dogmen, die Fleischwerdung Jesu leugnen. Jede dieser Gruppierungen kann man als Teil der antichristlichen Verführung sehen, die sich an die Stelle unseres Herrn Jesus setzt und seine Gemeinde geistlich bekämpft. Darum ist es umso wichtiger wachsam zu sein und uns „vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern kommen, inwendig aber reißende Wölfe sind zu hüten“ (Matt. 7,15). Die Früchte dieser falschen Lehrer offenbaren sie letztlich als unechte Bekenner, deren Verurteilung sicher ist (Matt. 7,16-23). Die Seinen wird unser Herr jedoch bewahren, denn er “weiß die Gottesfürchtigen aus der Versuchung zu retten, die Ungerechten aber aufzubewahren für den Tag des Gerichts, wenn sie bestraft werden“ (2. Petr. 2,9). Ihm gilt unser Dank für diese wunderbare Zusicherung unseres Heils und für seine Bewahrung in Zeiten der Verführung!