Leider sorgt das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden immer wieder für Verwirrung und Missverständnisse. Der Grund dafür ist, dass es oftmals weniger im Licht des Evangeliums und mehr werkebezogen gedeutet wird. Leider kommt es dabei auch vor, dass Kinder Gottes mit diesem Gleichnis unter Druck gesetzt werden, ihre „Talente“ einzusetzen, weil sie sonst, so heißt es, mit dem Gericht bei der Wiederkunft Jesu zu rechnen haben. Aus diesem Grund wollen wir uns im Folgenden um eine Evangeliums-zentrierte Auslegung dieses Gleichnisses bemühen und versuchen, den Sinn dieses Gleichnisses in seinem Kontext herauszuarbeiten.
In Lukas 19,11-27 erzählt Jesus dieses Gleichnis seinen Jüngern auf seiner letzten Reise von Jericho nach Jerusalem. Da die Jünger fälschlicherweise annahmen, dass Jesus nach Jerusalem gehen und ein irdisches Reich aufrichten würde, gebraucht er dieses Gleichnis, um klarzustellen, dass das Reich Gottes noch nicht in seiner Fülle kommen und dass seine sichtbare Herrschaft noch nicht beginnen wird:
Während sie aber dies hörten, fügte er noch ein Gleichnis hinzu, weil er nahe bei Jerusalem war, und sie meinten, dass das Reich Gottes sogleich erscheinen sollte. Er sprach nun: Ein hochgeborener Mann zog in ein fernes Land, um ein Reich für sich zu empfangen und wiederzukommen. Er berief aber zehn seiner Knechte und gab ihnen zehn Pfunde und sprach zu ihnen: Handelt ⟨damit⟩, bis ich ⟨wieder-⟩komme! Seine Bürger aber hassten ihn und schickten eine Gesandtschaft hinter ihm her und ließen sagen: Wir wollen nicht, dass dieser über uns König ist!
Lukas 19,11-14
Jesus baut dieses Gleichnis um einen adligen Mann auf, der in ein fremdes Land zieht, um sich zum König machen zu lassen. Er spielt damit auf einige historische Ereignisse an, die den Juden seiner Zeit gut bekannt waren: 40 v. Chr. musste Herodes der Große nach Rom reisen, um vom römischen Kaiser die Herrschaft über Israel zugesprochen zu bekommen. Nach seinem Tod im Jahr 4 v. Chr. mussten auch seine Söhne, unter denen er sein Land aufteilen ließ, nach Rom reisen, um offiziell als Herrscher eingesetzt zu werden. Unter ihnen war auch Archelaus, der die Regentschaft über Judäa von seinem Vater erhalten sollte. Da Archelaus ein gewalttätiger und bösartiger Herrscher war (er ließ 3000 Juden während eines Aufruhrs im Tempel gewaltsam umbringen), schickten die Juden eine Delegation hinter ihm her, um gegen seine Ernennung zu protestieren. Der Kaiser gab diesem Protest jedoch nicht statt und ernannte ihn zum Ethnarchen über Judäa, Idumäa und Samaria.
Mit dieser Anspielung auf die Herrscher seiner Zeit spricht Jesus in die Lebenswirklichkeit seiner Zuhörer und kündigt an, dass die Juden im Begriff sind, dasselbe mit ihrem Messias zu tun: Während er dieses Gleichnis erzählt, ist er auf dem Weg nach Jerusalem, um von den Juden gekreuzigt zu werden und zu seinem Vater zurückzukehren, um dort seine Herrschaft und sein Reich in Empfang zu nehmen. Der Prophet Daniel beschreibt die Inthronisierung Jesu in einer seiner Vision wie folgt:
Ich schaute in Visionen der Nacht: Und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer wie der Sohn eines Menschen. Und er kam zu dem Alten an Tagen, und man brachte ihn vor ihn. Und ihm wurde Herrschaft und Ehre und Königtum gegeben, und alle Völker, Nationen und Sprachen dienten ihm. Seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht vergeht, und sein Königtum ⟨so⟩, dass es nicht zerstört wird.
Daniel 7,13-14
Während Jesus also seine Herrschaft im Himmel antritt, hinterlässt er seinen Dienern in dem Gleichnis jeweils ein Pfund (= etwas mehr als 3 Monatslöhne), mit dem jeder von ihnen handeln und es vermehren soll. Es ist zu beachten, dass jeder Knecht den gleichen Geldbetrag erhält. Das ist ein Hinweis darauf, dass es in diesem Gleichnis nicht um den Einsatz individueller Begabungen oder Talente geht, sondern um die Verwendung dessen, was alle Kinder Gottes erhalten haben: Das Evangelium, das in Gottes Wort geoffenbart wird.
Der Herr hat allen seinen Knechten das Wissen hinterlassen, dass er sowohl Richter als auch Retter ist und dass „kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben ist, in dem wir gerettet werden müssen“ (Apg. 4,12). Dementsprechend hat er seinen Dienern sein Wort und die Verantwortung für das Evangelium anvertraut, mit dem er sie auffordert zu handeln und es einzusetzen. Die bildhafte Aufforderung „Handel“ mit Gottes Wort zu treiben, kann am besten so verstanden werden, dass die Empfänger sich mit diesem Wort beschäftigen, seine Schätze heben und sie weitergeben sollen, damit sie Früchte tragen können. So wie es die ersten beiden Diener in dem Gleichnis taten:
Und es geschah, als er zurückkam, nachdem er das Reich empfangen hatte, da sagte er, man solle diese Knechte, denen er das Geld gegeben hatte, zu ihm rufen, damit er erfuhr, was ein jeder erhandelt hatte. Der erste aber kam herbei und sagte: Herr, dein Pfund hat zehn Pfunde hinzugewonnen. Und er sprach zu ihm: Recht so, du guter Knecht! Weil du im Geringsten treu warst, sollst du Vollmacht über zehn Städte haben. Und der zweite kam und sagte: Herr, dein Pfund hat fünf Pfunde eingetragen. Er sprach aber auch zu diesem: Und du, sei über fünf Städte!
Lukas 19,15-19
Als der Adlige, der zum König gekrönt wurde, in dem Gleichnis zurückkehrt, lässt er die Diener zu sich rufen, um herauszufinden, was sie mit dem Geld gemacht haben. Dabei treten die treuen Diener des Königs zuerst auf. Sie zollen ihrem Herrn die Anerkennung, die ihm gebührt und betonen, dass das Pfund ihres Herrn 10 bzw. 5 weitere Pfunde dazugewonnen hat. Der Gewinn ist also nicht ihnen zuzuschreiben, sondern der Gabe ihres Herrn, der durch seine kluge Politik ein wirtschaftliches Umfeld geschaffen hat, das eine Rendite abwirft.
Daraufhin belohnt der Regent seine Diener, indem er ihnen die Herrschaft über mehrere Städte seines Reiches überträgt. Diese Belohnung ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass die Geldsumme, die er ihnen zur Verwaltung überlassen hatte, nur ein paar Monatsgehälter betragen hat. Jesus macht damit deutlich, dass bei seiner Wiederkunft diejenigen in seinem Reich mitregieren werden, die sein Wort annehmen und es gute Früchte in Form des Glaubens an Christus tragen lassen. Der falsche Diener, der sein Pfund nicht einsetzt und es versteckt, wird dagegen verurteilt:
Und der andere kam und sagte: Herr, siehe, ⟨hier ist⟩ dein Pfund, das ich in einem Schweißtuch verwahrt hielt; denn ich fürchtete dich, weil du ein strenger Mann bist; du nimmst, was du nicht hingelegt, und du erntest, was du nicht gesät hast. Er spricht zu ihm: Aus deinem Mund werde ich dich richten, du böser Knecht! Du wusstest, dass ich ein strenger Mann bin, der ich nehme, was ich nicht hingelegt, und ernte, was ich nicht gesät habe? Und warum hast du mein Geld nicht auf eine Bank gegeben, und wenn ich kam, hätte ich es mit Zinsen eingefordert? Und er sprach zu den Dabeistehenden: Nehmt das Pfund von ihm und gebt es dem, der die zehn Pfunde hat! Und sie sprachen zu ihm: Herr, er hat ⟨ja schon⟩ zehn Pfunde! Ich sage euch: Jedem, der da hat, wird gegeben werden; von dem aber, der nicht hat, von dem wird selbst, was er hat, weggenommen werden. Doch jene meine Feinde, die nicht wollten, dass ich über sie König würde, bringt her und erschlagt sie vor mir!
Lukas 19,20-27
Als letztes tritt der dritte Diener vor, um Rechenschaft abzulegen. Der Text macht deutlich, dass er eine andere Art von Knecht ist als die ersten beiden Knechte. Im Griechischen wird für ihn der Begriff heteros verwendet, was zu verstehen gibt, dass er eine „heterogene“ (=andere) Art von Mensch ist: Er ist ein falscher Knecht, der wie das Volk den König hasst. Das sieht man daran, dass er das ihm anvertraute Pfund versteckt und nichts damit erwirtschaftet hat.
Er schätzt seinen Herrn nicht und hat auch nicht den Wunsch, ihn zu ehren, indem er seinem Befehl mit dem Pfund zu handeln, gehorcht. Stattdessen kümmert es ihn nicht, was sein Herr von ihm denkt und er versucht, sein Leben ohne ihn und seinen Herrschaftsanspruch zu leben. Dies wird deutlich an seinen Worten: „Herr, siehe, ⟨hier ist⟩ dein Pfund, das ich in einem Schweißtuch verwahrt hielt; denn ich fürchtete dich, weil du ein strenger Mann bist; du nimmst, was du nicht hingelegt, und du erntest, was du nicht gesät hast.“ Die Aussage, dass er den König fürchtet, ist nur ein Vorwand, der in keiner Weise durch seine Taten gestützt wird. Stattdessen hasst er seinen Herrn und beschuldigt ihn in seiner Aussage indirekt des Diebstahls, wenn er sagt, dass er nimmt, was er nicht gesät hat. Diesem Knecht zufolge soll der König also seinen Untertanen das wegnehmen, wofür sie hart gearbeitet haben, was nichts anderes als Raub am eigenen Volk ist.
Der dritte Knecht ist also kein wahrer Knecht, sondern ein falscher Bekenner, der versucht das Beste aus seiner Beziehung zum König herauszuschlagen, ohne ihm echte Dankbarbarkeit entgegenzubringen. Das weiß auch der König, weshalb er ihm entgegnet: „Streng soll ich sein? Wenn du mich so gut kanntest und wusstest, wie streng ich bin, warum hast du das Geld dann nicht auf eine Bank gebracht, damit ich wenigstens Zinsen erhalten hätte?“ (Freie Übertragung gemäß der Neues Leben Bibel). Obwohl der König hier die Aussage des treulosen Knechts wiederholt, erkennt er sie nicht als wahr an. Stattdessen benutzt er sie, um den falschen Knecht zu überführen und klarzustellen, dass er, wenn er seine eigene Aussage wirklich geglaubt hätte, zumindest das Geld auf die Bank gebracht hätte, um dem Zorn des Herrn zu entgehen. Da er aber weder den Herrn fürchtet noch ihn anerkennt, wird er von ihm mit den Worten verurteilt: „Nehmt das Pfund von ihm und gebt es dem, der die zehn Pfunde hat!… Jedem, der da hat, wird gegeben werden; von dem aber, der nicht hat, von dem wird selbst, was er hat, weggenommen werden.“
Mit dieser Aussage unterstreicht Jesus ein wichtiges geistliches Prinzip: Das Prinzip, dass diejenigen, die das Wort Gottes empfangen und angenommen haben, noch mehr geistliches Licht und Offenbarung von Gott erwarten können. Auf der anderen Seite werden diejenigen, die das Wort zwar empfangen, aber abgelehnt haben, auch das Licht wieder verlieren, das sie bekommen haben. Jesus bezieht sich damit auf die Juden, denen „die Aussprüche Gottes anvertraut worden sind“ (Röm. 3,2) und die das Wort und den darin geoffenbarten Messias verworfen haben.
Jesus bestätigt dieses Prinzip auch in der Praxis, indem er nicht mehr in klarer Sprache, sondern in Gleichnissen zu den Juden spricht: In Matthäus 12 beschuldigen ihn die Pharisäer „die Dämonen durch den Beelzebul auszutreiben“ (Matth. 12,24), woraufhin Jesus, als Teil seines Gerichtes, nur noch in Gleichnissen zu ihnen redet. Das verwundert seine Jünger und sie fragen ihn nach dem Grund für seine Gleichnisse. Jesus antwortet ihnen:
Weil euch gegeben ist, die Geheimnisse des Reiches der Himmel zu wissen, jenen aber ist es nicht gegeben; denn wer hat, dem wird gegeben und überreichlich gewährt werden; wer aber nicht hat, von dem wird selbst, was er hat, genommen werden. Darum rede ich in Gleichnissen zu ihnen, weil sie sehend nicht sehen und hörend nicht hören noch verstehen; und es wird an ihnen die Weissagung Jesajas erfüllt, die lautet: »Mit Gehör werdet ihr hören und doch nicht verstehen, und sehend werdet ihr sehen und doch nicht wahrnehmen; denn das Herz dieses Volkes ist dick geworden, und mit den Ohren haben sie schwer gehört, und ihre Augen haben sie geschlossen, damit sie nicht etwa mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren und ich sie heile.«
Matthäus 13,11-15
Jesus macht in diesen Versen deutlich, dass der Grund für seine Gleichnisreden die Hartherzigkeit der Juden ist. Während die Jünger das Wort aufnahmen, an Jesus glaubten und mehr Licht erhielten, lehnten die Juden und ihre geistlichen Führer das Licht der Welt ab, weshalb ihnen auch das wenige Licht, das sie hatten, genommen wurde. Sie durften Gottes Worte, die von seinem Sohn bezeugt wurden, nicht mehr verstehen. Jesus macht dies deutlich, indem er aus Jesaja 6,9-10 zitiert, wo aufgezeigt wird, dass die Juden ihre geistlichen Herzen, Augen und Ohren absichtlich verschlossen hatten, weshalb Gott ihnen weitere Offenbarungen durch seinen Sohn vorenthielt.
Die jüdischen Schriftgelehrten und Pharisäer gehören also zu der Kategorie des dritten Knechtes im Gleichnis, die Gottes Wort in Form des Alten Testaments empfangen hatten, aber seine Botschaft und den darin geoffenbarten Messias zurückhielten, weshalb sie zusammen mit dem Rest des Volkes gerichtet wurden (Luk. 19,27). Seinen Jüngern hat Christus dagegen seinen Geist hinterlassen, der garantiert, dass sie sein Wort verstehen und annehmen werden, sodass es in ihrem Leben Frucht trägt. Wir können Jesus also dafür danken, dass er uns seinen Geist gesandt hat, der uns im Laufe der Zeit immer mehr geistliches Licht schenken und uns auf diese Weise Gottes Sohn immer mehr offenbaren wird.