Die Lehre der Rechtfertigung ist zentral für das richtige Verständnis des Evangeliums und wurde im 16. Jahrhundert zum Auslöser der Reformation. Obwohl sich der Reformator Martin Luther, anfangs noch als vorbildlicher Mönch, regelmäßig selbst züchtigte und die Beichte ablegte, fühlte er sich dennoch als Sünder und von seiner Schuld verurteilt. Er erkannte, dass Gottes Heiligkeit grenzenlos und seine eigenen Versuche, diese Heiligkeit zu erreichen, kläglich waren. Er kommentierte dazu:
Ich aber, der ich trotz meines untadeligen Lebens als Mönch, mich vor Gott als Sünder mit durch und durch unruhigem Gewissen fühlte und auch nicht darauf vertrauen konnte, ich sei durch meine Genugtuung mit Gott versöhnt: Ich liebte nicht, ja, ich hasste diesen gerechten Gott, der Sünder straft; wenn nicht mit ausgesprochener Blasphemie, so doch gewiss mit einem ungeheuren Murren war ich empört gegen Gott und sagte: „Soll es noch nicht genug sein, dass die elenden Sünder, die ewig durch die Erbsünde Verlorenen, durch den Dekalog mit allerhand Unheil bedrückt sind? Muss denn Gott durch das Evangelium den Schmerzen noch Schmerzen hinzufügen und uns durch das Evangelium zusätzlich seine Gerechtigkeit und seinen Zorn androhen?“
Trotz seiner Abneigung gegenüber Gott legte er weiterhin, in seiner Tätigkeit als Theologieprofessor, den Römerbrief aus und gelangte in seinem Studium zu den Versen 1,16-17. Dort schreibt der Apostel Paulus:
Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht, ist es doch Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden, sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen. Denn Gottes Gerechtigkeit wird darin offenbart aus Glauben zu Glauben, wie geschrieben steht: „Der Gerechte aber wird aus Glauben leben.“
Römer 1,16-17
Beim Lesen dieser Verse wurde Luthers Aufmerksamkeit vor allem auf die Formulierung „Gottes Gerechtigkeit“ gelenkt. Als er begann zu verstehen, dass Paulus hier von einer fremden Gerechtigkeit sprach, die Gott dem Sünder in seiner Gnade durch den Glauben zurechnet, ohne das Zutun von eigenen Werken, öffnete sich ihm das Verständnis für das Evangelium und er durfte Frieden mit Gott erfahren:
Endlich achtete ich in Tag und Nacht währendem Nachsinnen durch Gottes Erbarmen auf die Verbindung der Worte, nämlich – „Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbart, wie geschrieben steht, ‚Der Gerechte lebt aus dem Glauben‘.“ Da habe ich angefangen, die Gerechtigkeit Gottes so zu begreifen, dass der Gerechte durch sie als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus Glauben; ich begriff, dass dies der Sinn ist: Offenbart wird durch das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes, nämlich die passive, durch die uns Gott, der Barmherzige, durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: „Der Gerechte lebt aus dem Glauben.“ Nun fühlte ich mich ganz und gar neugeboren und durch offene Pforten in das Paradies selbst eingetreten.
So verstand Martin Luther die Rechtfertigung als einen göttlichen Akt, bei dem der heilige Gott, dem Sünder, der an Jesus glaubt, die Gerechtigkeit Christi anrechnet und ihn von jeder Schuld freispricht, ohne Rücksicht auf seine eigenen Werke. Dieses Verständnis deckt sich mit den vielen Aussagen der Schrift zum Thema der Rechtfertigung:
Jetzt aber ist ohne Gesetz Gottes Gerechtigkeit offenbart worden, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten: Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesus Christus für alle, die glauben.
Römer 3,21-22
Dem aber, der Werke tut, wird der Lohn nicht angerechnet nach Gnade, sondern nach Schuldigkeit. Dem dagegen, der nicht Werke tut, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet.
Römer 4,4-5
Denn wie durch des einen Menschen Ungehorsam die vielen in die Stellung von Sündern versetzt worden sind, so werden auch durch den Gehorsam des einen die vielen in die Stellung von Gerechten versetzt werden.
Römer 5,19
Damit ich Christus gewinne und in ihm gefunden werde – indem ich nicht meine Gerechtigkeit habe, die aus dem Gesetz ist, sondern die durch den Glauben an Christus, die Gerechtigkeit aus Gott aufgrund des Glaubens.
Philipper 3,8-9
Diese Verse sagen deutlich, dass die einzige Gerechtigkeit, durch die ein Mensch vor Gott bestehen kann, eine fremde Gerechtigkeit sein muss, die von Gott geschenkt wird und nicht die eigene Gerechtigkeit des Sünders sein kann. Auch wenn bestimmte Bewegungen heutzutage fälschlicherweise die Meinung vertreten, dass der gläubige Sünder sowohl durch die zugerechnete Gerechtigkeit Christi als auch durch die eigene Gerechtigkeit gerechtfertigt wird, ist die Bibel doch sehr klar in der Aussage, dass kein Mensch, auch nicht ein Gläubiger, eine eigene Gerechtigkeit besitzt, die vor Gott irgendwie ausreichen könnte. Paulus schreibt in Römer 3:
Denn es ist kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und erlangen nicht die Herrlichkeit Gottes und werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist.
Römer 3,22-24
Folglich ist das Opfer Christi am Kreuz für die Seinen ausreichend und es bedarf keiner weiteren Gerechtigkeit mehr, um gerechtfertigt zu werden. Die Rechtfertigung eines Menschen geschieht also nicht in einem mehrstufigen Prozess, sondern unmittelbar in dem Moment, in dem die Person an Christus glaubt. Dann rechnet Gott ihm die volle Gerechtigkeit Jesu an und er wird von Gott für „gerecht erklärt“.
Zur Zeit Luthers war die römisch-katholische Kirche vorherrschend. Diese verstand die Lehre der Rechtfertigung nicht als ein „gerecht erklären“, sondern als ein „gerecht machen“ durch die Sakramente und die „Eingießung der Gnade“. Martin Luthers Entdeckung der freien Rechtfertigung durch Glauben wurde somit unweigerlich zum Stolperstein und Streitthema mit der katholischen Kirche. Obwohl Luther eigentlich das falsche Verständnis der Rechtfertigungslehre der Kirche korrigieren und die katholische Kirche reformieren wollte, wurde er von ihr, im Jahr 1521, exkommuniziert bzw. ausgeschlossen. In der Folge entstanden unter anderem die evangelisch-lutherischen Kirchen, die sich zur biblischen Rechtfertigungslehre bekannten. Auf Basis dieser Lehre durften sie im Zuge der Reformation große geistliche Frucht in Form von mehreren Erweckungen erleben.
So ist also die Lehre der „Rechtfertigung aus Glauben, nicht aus Werken“ Kern des Evangeliums und deswegen zentral für unser Verständnis der guten Nachricht. Wenn wir an der Genügsamkeit des Opfers Christi und der Vollkommenheit seiner zugerechneten Gerechtigkeit festhalten, ruht unsere Hoffnung allein auf ihm und wir dürfen, wie Martin Luther, Frieden in seinem Erlösungswerk finden.