Warum wohnt Gott nicht in Tempeln, die von Händen gemacht sind?

In Apostelgeschichte 7 lesen wir eine erstaunliche Aussage über den Tempel. In diesem Kapitel verantwortet sich der erste christliche Märtyrer Stephanus vor dem Hohen Rat, nachdem ihm von den Juden vorgeworfen wurde, dass er gegen Gott und Mose (Apg. 6,11) und gegen das Gesetz und den Tempel geredet habe (Apg. 6,13). Dort entkräftet er zunächst den Vorwurf, er habe gegen Gott (Apg. 7,2) und gegen Mose (Apg. 7,20) gelästert und bestätigt die Signifikanz des Gesetzes Gottes (Apg. 7,38). Als er daraufhin auf den Vorwurf, er habe gegen den Tempel gelästert, eingeht, macht er folgende Aussagen:

Salomo aber erbaute ihm ein Haus. Doch der Höchste wohnt nicht in Tempeln, die von Händen gemacht sind, wie der Prophet spricht: „Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel für meine Füße. Was für ein Haus wollt ihr mir bauen, spricht der Herr, oder wo ist der Ort, an dem ich ruhen soll? Hat nicht meine Hand das alles gemacht?“

Apostelgeschichte 7,47-50

An dieser Stelle möchte Stephanus seine Zuhörer auf ein Paradoxon aufmerksam machen, das seit der Grundlegung des Tempels bestand: Wie kann ein irdischer Tempel als Teil der Schöpfung dauerhaft die Gegenwart des ewigen Gottes fassen?

Schon Salomo erkannte dieses Problem und wusste, dass Gottes Gegenwart in einem irdischen Tempel nur in einem sehr begrenzten Maße möglich war. Bei der Einweihung des ersten Tempels betete er:

Aber wohnt Gott wirklich auf der Erde? Siehe, die Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen; wie sollte es denn dieses Haus tun, das ich gebaut habe!

1. Könige 8,27

Da Gott Geist ist und weit größer als seine Schöpfung, konnte weder Salomos noch Serubabbels Tempel letztendlich die vollständige Erfüllung der Prophezeiung an David sein, dass sein Sohn Gott einen Tempel bauen würde (2 Samuel 7,12-13). Beide Tempel waren „von Händen gemacht“ und deshalb ungeeignet die volle Herrlichkeit Gottes zu fassen. Das unterstreicht auch Stephanus in Apostelgeschichte 7,49-50, indem er den Propheten Jesaja zitiert:

So spricht der HERR: Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel für meine Füße! Was für ein Haus wollt ihr mir denn bauen? Oder wo ist der Ort, an dem ich ruhen soll? Denn dies alles hat meine Hand gemacht, und so ist dies alles geworden, spricht der HERR. Ich will aber den ansehen, der demütig und zerbrochenen Geistes ist und der zittert vor meinem Wort.

Jesaja 66,1-2

So sind also menschliche Tempel ungeeignet, Gottes Gegenwart vollständig zu fassen. Des Weiteren wurde auch die gesamte Schöpfung und vor allem der irdische Tempel Jerusalems durch Götzendienst entweiht und können Gottes Heiligkeit nicht gerecht werden. Im Propheten Jesaja heißt es weiter:

Wer einen Ochsen schächtet, ist wie einer, der einen Menschen erschlägt; wer ein Schaf opfert, ist wie einer, der einem Hund das Genick bricht; wer Speisopfer darbringt, ist wie einer, der Schweineblut opfert; wer Weihrauch anzündet, ist wie einer, der einen Götzen verehrt – sie alle erwählen ihre eigenen Wege, und ihre Seele hat Wohlgefallen an ihren Gräueln. Darum will auch ich erwählen, was sie quält, und über sie bringen, wovor ihnen graut; denn als ich rief, gab mir niemand Antwort; als ich redete, wollten sie nicht hören, sondern taten, was böse ist in meinen Augen, und erwählten, was mir nicht gefiel!

Jesaja 66,3-4

Aus diesem Grund spiegelt auch Stephanus‘ Anklage der unbußfertigen Juden, sie „widerstreben allezeit dem Heiligen Geist“ (Apg. 7,51), Jesajas Prophetie über die Götzendiener im irdischen Tempel wieder. Sie bekannten sich zwar äußerlich zum Gott Israels, lehnten ihn aber inwendig ab und verfolgten sein wahres Volk, weshalb Gott ihnen auch Gericht ankündigen muss. Jesaja schreibt weiter:

Hört das Wort des HERRN, ihr, die ihr erzittert vor seinem Wort: Es sagen eure Brüder, die euch hassen und euch verstoßen um meines Namens willen: „Der HERR möge sich doch verherrlichen, damit wir eure Freude sehen können!“ Aber sie werden sich schämen müssen! Eine Stimme des Getümmels erschallt von der Stadt her, eine Stimme aus dem Tempel! Das ist die Stimme des HERRN, der seinen Feinden bezahlt, was sie verdienen.

Jesaja 66,5-6

Demnach konnte der räumlich limitierte und vom Götzendienst besudelte Tempel Jerusalems, der zudem von Menschen erbaut worden ist, nicht dauerhaft der Wohnort Gottes sein. Stattdessen verstand Stephanus, dass der irdische Tempel selbst nur ein Bild auf den neuen, wahrhaftigen Tempel sein konnte, der mit Gottes neuer Schöpfung eingeweiht wurde. Stephanus wusste also, dass die Verheißung eines neuen Heiligtums, welches von dem Nachkommen Davids gebaut wird, nur durch Christus, dem Eckstein des wahren Tempels, erfüllt werden kann. Nur er ist fähig einen Tempel zu bauen, der Gottes Herrlichkeit fassen kann und der nicht „mit Händen gemacht ist“:

Wir haben ihn sagen hören: Ich will diesen mit Händen gemachten Tempel zerstören und in drei Tagen einen anderen aufbauen, der nicht mit Händen gemacht ist.

Markus 14,58

Dieser neue Tempel kann jedoch nicht Teil der alten Schöpfung sein, da diese von der Sünde und dem Götzendienst verunreinigt ist. Stattdessen beabsichtigt Gott in der neuen Schöpfung, dem neuem Himmel und der neuen Erde, bei seinem Volk zu wohnen und sie mit seiner Gegenwart zu erfüllen (Offb. 21,1-22,5). Gott wohnt also nicht in menschlichen Tempeln aus Stein, sondern in der zukünftigen, erlösten Welt, die er neu erschaffen wird. Aus diesem Grund sandte er auch seinen Sohn, um sein Volk von der Sünde zu reinigen und seine Gegenwart, die im Alten Testament auf den Himmel und das Allerheiligste beschränkt war, auf die Gemeinde auszuweiten. Sie ist bereits jetzt Teil dieser neuen Schöpfung (2. Kor. 5,17) und Wohnort des Heiligen Geistes (1. Kor. 3,16) und somit Teil des neuen, wahrhaftigen Tempels, in dem Jesus ewig wohnt. Folglich haben wir in Christus auch schon in diesem Leben Anteil an der besonderen Gegenwart Gottes bekommen und dürfen uns auf Gottes uneingeschränkte Nähe in der Ewigkeit, im vollendeten Tempel der neuen Schöpfung, freuen:

Denn siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde, so dass man an die früheren nicht mehr gedenkt und sie nicht mehr in den Sinn kommen werden; sondern ihr sollt euch allezeit freuen und frohlocken über das, was ich erschaffe; denn siehe, ich erschaffe Jerusalem zum Jubel und sein Volk zur Freude. Und ich selbst werde frohlocken über Jerusalem und mich freuen über mein Volk, und es soll kein Klagelaut und kein Wehgeschrei mehr darin vernommen werden.

Jesaja 65,17-19