Der Gläubige ist von seiner Natur her ein interessantes Geschöpf. Er ist wohl wie kein anderes Wesen in dieser Welt von der alten, wie auch von der zukünftigen Schöpfung geprägt. Zum einen ist er eine neue Kreatur mit einer neuen Gesinnung, neuen Wünschen und neuen Interessen, die auf Gott ausgerichtet sind. Zum anderen kämpft er noch mit seinen sündigen Neigungen und besitzt einen Leib, der noch nicht erlöst ist. Man kann also sagen, dass er zwischen der alten und der zukünftigen Welt lebt (mehr Informationen zu dem zwei Zeitalter Modell der Bibel finden sich in diesem Beitrag). Er ist schon jetzt ein neuer Mensch, der eine fundamentale Veränderung in seinem Leben erfahren hat, die aber noch nicht abgeschlossen ist. Dieser Erneuerungsprozess des Gläubigen wird auch Heiligung genannt und bezieht das Ablegen der alten, sündigen Gewohnheiten und das Anlegen der Gerechtigkeit und des neuen Menschen mit ein (Eph. 4,21-24, Kol. 3,8-10).
In Römer 6-8 dem locus classicus (dem klassischen Abschnitt) über die Heiligung, beschäftigt sich der Apostel Paulus mit diesem Umgestaltungsprozess und beschreibt, wie Gott den gerecht gesprochenen Sünder seiner rechtlichen Stellung anpasst und ihn in seinem praktischen Leben heiligt. Dabei erläutert er, dass dieser Prozess bis zum Lebensende des Gläubigen andauert und erst im Himmel abgeschlossen wird: Dann erst werden wir sein, was wir sein sollen und „ihm gleich sein, denn wir werden ihn sehen, wie er ist“ (1. Joh. 3,2). Diesseits des Himmels beschreibt Paulus jedoch unsere Ausgangslage im Heiligungsprozess wie folgt:
Mit der Wiedergeburt hat Gott den Geist des Gläubigen auferweckt und ihn erlöst. Den erlösten Teil des Menschen bezeichnet die Schrift auch als den neuen Mensch (2. Kor. 5,17, Eph. 4,24). Dieser ist bestrebt Gott zu gefallen und seinen Willen zu tun. Allerdings hat der Mensch nicht nur einen Geist, sondern auch einen Körper, der ebenfalls von der Sünde Adams befallen wurde und noch nicht erlöst ist. Dementsprechend ist der unerlöste Körper des Gläubigen (von Paulus in Röm. 6,12 auch als der sterbliche Leib bezeichnet) ein Einfallstor für die Sünde und kann durch das Fleisch (von Paulus in Röm. 6,6 als der Leib der Sünde bezeichnet) zum Sündigen gebracht werden. Folglich findet der Kampf um unsere Heiligung zwischen unserem Geist, der vom Heiligen Geist befähigt wird, und unserem Fleisch statt und muss immer wieder aufs Neue ausgefochten werden. Dabei stellt sich die Frage, wie wir in diesem Kampf mit der Sünde bestehen und unser Fleisch, also unsere sündigen Neigungen, biblisch überwinden können.
Diese Frage behandelt Paulus unter anderem in Römer 6. Nachdem Paulus in Römer 5 erklärt hat, dass das Gesetz gegeben wurde, um die Sünde größer zu machen, damit letztlich auch die Gnade überreich wird (Röm. 5,20-21), kommt er in Römer 6 seinen Kritikern zuvor und beantwortet die Frage, ob ein Gerechtfertigter dann weiter in Sünde leben kann. Diese Frage verneint der Apostel mit der stärksten Verneinungsform, die das Griechische kennt.
Was sollen wir nun sagen? Sollten wir in der Sünde verharren, damit die Gnade zunimmt? Auf keinen Fall! Wir, die wir der Sünde gestorben sind, wie werden wir noch in ihr leben? Oder wisst ihr nicht, dass wir, so viele auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? So sind wir nun mit ihm begraben worden durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus aus den Toten auferweckt worden ist durch die Herrlichkeit des Vaters, so auch wir in Neuheit des Lebens wandeln. Denn wenn wir verwachsen sind mit der Gleichheit seines Todes, so werden wir es auch mit der ⟨seiner⟩ Auferstehung sein; da wir dies erkennen, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist, damit der Leib der Sünde abgetan sein soll, dass wir der Sünde nicht mehr dienen. Denn wer gestorben ist, ist freigesprochen von der Sünde. Sind wir aber mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden, und wissen, dass Christus, von den Toten erweckt, hinfort nicht stirbt; der Tod wird hinfort nicht über ihn herrschen. Denn was er gestorben ist, das ist er der Sünde gestorben ein für alle Mal; was er aber lebt, das lebt er Gott.
Römer 6,1-10
Für Paulus ist schon alleine die Vorstellung, dass ein Erlöster in Sünde weiterlebt, um die Gnade Gottes größer zu machen eine Ungeheuerlichkeit. Die Begründung die Paulus dafür liefert ist, dass wir mit Christus in seinem Tod eins gemacht wurden und deshalb dem Machtbereich der Sünde abgestorben sind. Das heißt, wir sind nicht länger Sklaven der Sünde und damit gebunden zu sündigen.
Unsere geheimnisvolle Verbindung mit unserem neuen Herrn Christus symbolisiert unsere Taufe: Gott hat uns mit seinem Sohn in seinem Erlösungswerk identifiziert, sodass als er für unsere Sünde am Kreuz starb, wir mit ihm der Sünde starben. In gleicher Weise sind wir mit ihm als er auferstand, auch zu einem neuen Leben auferstanden. Das heißt, dass unsere geistliche Hineinversetzung in Jesus, die unsere Wassertaufe symbolisiert, uns aus der Knechtschaft und damit aus der Sklaverei sündigen zu müssen, befreit hat. Wir wurden also geistlich mit Christus so verbunden, dass sein Tod zu unserem Tod und seine Auferstehung zu unserer Auferstehung wurden und wir jetzt in einem erneuerten Leben wandeln. Der Apostel Petrus greift diesen Gedankengang auf und vertieft ihn:
Da nun Christus im Fleisch gelitten hat, so wappnet auch ihr euch mit derselben Gesinnung – denn wer im Fleisch gelitten hat, hat mit der Sünde abgeschlossen –, um die im Fleisch ⟨noch⟩ übrige Zeit nicht mehr den Begierden der Menschen, sondern dem Willen Gottes zu leben. Denn die vergangene Zeit ist ⟨uns⟩ genug, den Willen der Nationen vollbracht zu haben, als ihr wandeltet in Ausschweifungen, Begierden, Trunkenheit, Festgelagen, Trinkgelagen und unerlaubten Götzendiensten.
1. Petrus 4,1-3
In diesen Versen fordert uns Petrus auf, den Weg Christi zu gehen und unseren sündigen Begierden zu entsagen, indem wir mit ihm in dieser Welt leiden. Da er im Fleisch bis zum Tod gelitten hat und wir in ihm waren, haben auch wir mit der Sünde abgeschlossen, sodass wir nicht länger unseren fleischlichen Lüsten dienen müssen. Jesu Tod und Auferstehung hat uns nämlich geistlich befreit und uns die Möglichkeit gegeben, uns für den Willen Gottes und gegen die Sünde entscheiden zu können. Dabei ist die Taufe das sichtbare Zeichen für diese Befreiung. Als Martin Luther angefochten wurde und in Versuchung stand, schrieb er mit Kreide auf einen Tisch: „Baptizatus Sum“ (lat. „Ich bin getauft“). Damit erinnerte er sich an die Tatsache, dass er der Macht der Sünde in Christus abgestorben und dem Bösen widerstehen konnte.
Da Paulus uns in Römer 6,1-10 unsere geistliche Stellung in Christus beschreibt, geht er ab Vers 11 auf die Praxis ein und erläutert, wie sich unsere Stellung jetzt auf unseren alltäglichen Kampf mit der Sünde auswirken sollte:
So auch ihr: Haltet euch der Sünde für tot, Gott aber lebend in Christus Jesus! So herrsche nun nicht die Sünde in eurem sterblichen Leib, dass er seinen Begierden gehorcht; stellt auch nicht eure Glieder der Sünde zur Verfügung als Werkzeuge der Ungerechtigkeit, sondern stellt euch selbst Gott zur Verfügung als Lebende aus den Toten und eure Glieder Gott zu Werkzeugen der Gerechtigkeit! Denn die Sünde wird nicht über euch herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade.
Römer 6,11-14
Paulus ruft uns in diesen Versen auf, uns für das zu halten, was wir geistlich schon sind: Nämlich der Sünde abgestorben. Ein Toter kann nicht zum Zorn oder zur Eifersucht gereizt werden. Er bleibt einfach tot. Dementsprechend sollten auch wir auf die Versuchung wie ein Toter reagieren und auf die sündigen Regungen in unserem Leib nicht anspringen. Stattdessen sollten wir unsere Glieder bewusst Gott zur Verfügung stellen und sie ihm zum Dienst darreichen: Er ist es, der in uns das Wollen und auch das Vollbringen der Gerechtigkeit bewirkt (Phil. 2,13).
Paulus schließt diesen Abschnitt in Römer 6 mit einer großartigen Verheißung. In Vers 14 schreibt er, dass die Sünde nicht mehr in unserem Leben herrschen wird, weil wir nicht mehr unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade stehen. Wir sind also nicht zu einem Leben des ständigen Versagens im Kampf gegen die Sünde verurteilt, sondern haben die Zusage der Schrift, dass die Sünde uns nicht mehr beherrschen wird. Paulus stützt diese Zuversicht auf die Tatsache, dass wir aus dem Machtbereich des Gesetzes in den Machtbereich der Gnade übergegangen sind. Da das Gesetz von uns nur das verlangte, was wir ohnehin nicht leisten konnten, regte es unsere Begierden umso mehr und vergrößerte nur unsere Sünde. Durch unsere Vereinigung mit Christus sind wir aber jetzt vom Gesetz befreit und unter die Gnade gestellt, durch die der Heilige Geist an uns wirkt. Gott selbst schafft in uns also einen geheiligten Wandel, indem er uns von seinem Geist gibt, der uns befähigt, seinen Willen zu tun.
Der Schlüssel, um also mit der Sünde in unserem Leben fertig zu werden, ist es diese Wahrheiten, die Paulus hier in Römer 6 entfaltet zu glauben und uns der Macht der Sünde bzw. der Versuchung für tot zu halten. Dazu ist es hilfreich uns immer wieder, wie Martin Luther, an unsere Taufe zu erinnern. Sie symbolisiert unser Eintauchen in Christus, wodurch unser alter Mensch gekreuzigt und die Macht der Sünde über uns abgetan wurde. Auch wenn unser Fleisch noch unerlöst ist und uns immer wieder in Versuchung führt, kann es uns doch nicht mehr zur Sünde zwingen, wie es früher der Fall war. Wir können in Christus „Nein“ sagen, egal wie groß die Versuchung auch sein mag!
In ihm haben wir nämlich die Zusage unseres Sieges erhalten und die Verheißung, dass mit der Erlösung unseres Leibes auch der Prozess unserer Heiligung abgeschlossen sein wird (Röm. 8,23, 2. Kor. 5,2). Bis es allerdings so weit ist, hat uns Jesus seinen Geist gegeben, der uns immer wieder an unsere befreite, geistliche Stellung erinnert, „damit, wie Christus aus den Toten auferweckt worden ist durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in Neuheit des Lebens wandeln“ (Röm. 6,4). Ihm sei der Dank und die Ehre dafür!