Wie legte die frühe Kirche die Bibel aus?

Die frühe Kirche wird heute oft als Autorität und Referenz für unterschiedliche Lehren und Fragen zu Rate gezogen: Wie verstanden beispielsweise die ersten Christen das messianische Reich? Erwarteten sie ein tausendjähriges Friedensreich auf dieser Erde oder verstanden sie es als Jesu geistliche Herrschaft in der Gemeinde? Wie definierte die frühe Kirche die Lehre der Erwählung? Woher kommt die Sündhaftigkeit des Menschen?

Da man aus der Geschichte wichtiges lernen kann, suchen auch heute noch Theologen vielfach in den Werken von Tertullian, Irenaeus, Augustinus und anderen Kirchenvätern nach Antworten zu solchen Lehrfragen. Dabei ist ein spezielles Thema sehr entscheidend: Die Frage der Hermeneutik, oder auch: Wie ist die Bibel richtig auszulegen und zu verstehen?

Die erste Gemeinde hatte nur das Alte Testament als anerkanntes Wort Gottes vorliegen, auf dessen Grundlage die Apostel aufsetzten und das Neue Testament niederschrieben. Dabei legten die Apostel das Alte Testament zunächst einmal auf Jesus Christus, also christologisch, aus. Sie erkannten, dass sich die Verheißungen des ATs in Christus erfüllt hatten und dass er – aus diesem Grund – auch der Schlüssel zum korrekten Verständnis des ATs sein musste (2. Korinther 3,14).

Während seines Dienstes hier auf der Erde, hatte Jesus seinen Jüngern unter anderem die Typologie als Auslegungsmethodik gelehrt, bei der eine Person oder ein Geschehen im AT (ein sogenannter Typus) als Vorbild oder Muster einer anderen Person oder eines anderen Geschehens im NT (genannt Antitypus) dient. So sind beispielsweise die 3 Tage Jonas im Bauch des großen Fisches ein Typus, also ein Vorbild, auf die 3 Tage von Christus im Grab (Matthäus 12,38-41), oder Moses Aufrichtung der ehernen Schlange eine Vorrausschau für Jesu Erhöhung im Anschluss an seine Auferstehung (Johannes 3,14-15). Nicht nur die frühe Gemeinde, sondern v.a. die Apostel und die Schreiber des NT folgten weitgehend der Lehre Jesu und legten das AT sowohl christologisch als auch typologisch auf Jesus hin aus (tiefergehende Informationen zur Typologie liefert dieser Beitrag). Dabei lösten sie sich auch von einer strikt grammatischen-wörtlichen Auslegung des ATs, zugunsten einer geistlicheren Interpretation. Beispiele dafür können in Matthäus 2,15 (vgl. Hosea 11,1), Hebräer 10,16-17 (vgl. Jeremia 31,33-34) oder Apg. 2,34-35 (vgl. Psalm 110,1) gefunden werden.

Die geistliche Auslegung des ATs geriet jedoch im Laufe der Kirchengeschichte durch den übersteigerten Gebrauch von Allegorien, also bildhaften Metaphern, in die Kritik. So suchten Clemens von Alexandria und Origenes, beides Vertreter der sogenannten Alexandrinischen Schule, jeweils einen tieferen, mehrfachen Schriftsinn. Dazu benutzten sie hauptsächlich Allegorie, die sie in den Midrasch Auslegungen der Rabbiner wiederfanden. Zum Barmherzigen Samariters kommentierte Origenes folgendes:

Der Mann, der sich auf den Weg macht, ist Adam. Jerusalem ist das Paradies, und Jericho ist die Welt. Die Räuber sind böse Mächte. Der Priester ist das Gesetz, der Levit stellt die Propheten dar, und der Samariter ist Christus. Die Wunden sind Ungehorsam, das Reittier ist der Körper des Herrn, die [Herberge], in die alle kommen können, die es wollen, ist die Kirche. … Der Wirt ist das Oberhaupt der Kirche, dem sie anvertraut worden ist. Und die Tatsache, dass der Samariter zurückkehren wird, ist ein Sinnbild für das Zweite Kommen des Erretters.

Diese Art der sinnbildlichen Auslegung unterliegt einer gewissen Willkürlichkeit und wurde von vielen Vertretern der Kirche kritisiert. Vor allem Vertreter, der damals bekannten Antiochischen Schule darunter Diodoros von Tarsus, Johannes Chrysostomus und Theodor von Mopsuestia brachten die frühe Gemeinde wieder zu einem wörtlicheren-christologischen Verständnis der Schrift zurück.

Auch wenn die geistliche Auslegung des ATs durch den übersteigerten Gebrauch von Allegorien Schaden genommen hat, so müssen wir dennoch im Hinterkopf behalten, dass die Bibel primär geistliche Wahrheiten beschreibt und deswegen geistlich verstanden werden muss. Wie Paulus in 1. Korinther 2,13 schreibt muss Geistliches „geistlich beurteilt werden“. Aus diesem Grund tun auch wir gut daran, uns an das Vorbild der ersten Gemeinde zu halten und die Bibel nicht als Ratgeber für unserer Leben zu verstehen, sondern als die Kraft Gottes, die uns in Jesus Christus und seinem Evangelium geschenkt wird.