Die Gabe der Sprachenrede ist die wohl umstrittenste Geistesgabe in der heutigen Gemeinde. Während Pfingst- und charismatische Gemeinden den Wert dieser Gabe hochhalten, bestreiten konservative Gemeinden, dass es diese Gabe heute noch gibt. Aus diesem Grund wollen wir uns im Folgenden mit ihr beschäftigen und versuchen zu verstehen, was die Gabe der Sprachenrede eigentlich ist und ob sie heute noch existiert.
Was ist Sprachenrede?
Das erste Auftreten der Sprachenrede finden wir in Apostelgeschichte 2:
Und als der Tag des Pfingstfestes erfüllt war, waren sie alle an einem Ort beisammen. Und plötzlich geschah aus dem Himmel ein Brausen, als führe ein gewaltiger Wind daher, und erfüllte das ganze Haus, wo sie saßen. Und es erschienen ihnen zerteilte Zungen wie von Feuer, und sie setzten sich auf jeden Einzelnen von ihnen. Und sie wurden alle mit Heiligem Geist erfüllt und fingen an in anderen Sprachen zu reden, wie der Geist ihnen gab auszusprechen.
Apostelgeschichte 2,1-4
Wir lesen hier, dass die Jünger Jesu mit dem Heiligen Geist erfüllt wurden und anfingen in anderen Sprachen zu reden. Das griechische Wort glossa bedeutet entweder Zunge oder Sprache und beschreibt in diesem Kontext die Fremdsprachen, welche die Jünger, befähigt durch den Heiligen Geist, plötzlich sprechen konnten. Also ist die Sprachenrede ein Sprachwunder, das der Heilige Geist in einer Person wirkt, indem er sie begabt in einer Fremdsprache zu reden, die sie vorher nicht erlernt hat. Deshalb ist die Bezeichnung „Sprachenrede“ für diese Gabe auch besser geeignet als das so häufig verwendete Wort „Zungenrede“. In seinem Bericht über die Sprachenrede präzisiert Lukas weiter, dass die Jünger nicht nur in verschiedenen Sprachen, sondern auch in ganz bestimmten Dialekten redeten. In den Versen 6 bis 8 heißt es:
Als aber dieses Geräusch entstand, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt, weil jeder Einzelne sie in seiner eigenen Mundart reden hörte. Sie entsetzten sich aber alle und wunderten sich und sagten: Siehe, sind nicht alle diese, die da reden, Galiläer? Und wie hören wir ⟨sie⟩, ein jeder in unserer eigenen Mundart, in der wir geboren sind
Apostelgeschichte 2,6-8
Das griechische Wort dialektos, das hier mit Mundart übersetzt wird, beschreibt die verschiedenen Dialekte, in denen die Jünger ihre Botschaft weitergaben. Kein Wunder also, dass die umstehenden Juden, die aus der ausländischen Diaspora kamen über diese ungebildeten Galiläer erstaunt waren, die plötzlich ihre Dialekte und Sprachen beherrschten.
Was ist der Zweck der Sprachenrede?
In 1. Korinther 14, seinem großen Kapitel über die Sprachenrede, schreibt der Apostel Paulus Folgendes:
Es steht im Gesetz geschrieben: »Ich will durch Leute mit fremder Sprache und durch Lippen Fremder zu diesem Volk reden, und auch so werden sie nicht auf mich hören, spricht der Herr.« Daher sind die Sprachen zu einem Zeichen, nicht für die Glaubenden, sondern für die Ungläubigen; die Weissagung aber nicht für die Ungläubigen, sondern für die Glaubenden.
1. Korinther 14,21-22
Paulus gibt hier Jesaja 28,11-12 wieder, um den Korinther zu beweisen, dass die Sprachenrede ein Gerichtszeichen für das ungläubige Israel ist. In Jesaja 28 verkündigt der Prophet dieses kommende Gericht, indem er den Unglauben der Juden anprangert und ihnen voraussagt, dass Gott mit ihnen, weil sie nicht auf ihn hören wollen, in fremden Sprachen reden und sie sein Reden nicht mehr verstehen lassen wird. Und genau das hat sich am Pfingsttag in Jerusalem erfüllt: Während die Juden, die aus dem Ausland kamen, die Jünger Jesu und ihre Botschaft verstanden, konnten die ortsansässigen Juden sie nicht verstehen, sodass sie spotteten und meinten die Jünger seien betrunken (Apg. 2,13).
Wir sehen also, dass die Sprachenrede Gottes Art und Weise war, den Juden mitzuteilen, dass er nicht mehr nur primär zu ihnen redet, sondern von nun an zu der ganzen Welt, indem er in den Sprachen der Heiden spricht. Diese Tatsache wird auch dadurch unterstrichen, dass das Phänomen der Sprachenrede vor allem dann auftrat, wenn eine neue Gruppe das Heil annahm und in die Gemeinde eingegliedert wurde (die Heiden in Apg. 10,25-48 oder die Gläubigen des Alten Bundes in Apg. 19,1-7). So verstanden beispielsweise die gläubigen Juden, die bei Petrus waren, als sie Kornelius und seine Familie in Sprachen reden hörten, dass Gott jetzt auch den Heiden das Heil vorbehaltlos zuspricht (Apg. 10,45-46).
Das Wunder der Sprachenrede an Pfingsten ist also in gewisser Weise eine Umkehr des Gerichts von Babel, wo Gott die Menschheit durch eine Sprachenverwirrung zerstreut hatte (1. Mose 11,1-9). Es ist die Erfüllung von Gottes Versprechen die erlöste Menschheit, bestehend aus allen Nationen und Völkern, in einem neuen Volk zu sammeln.
Beinhaltet die Sprachenrede auch das Reden in „Sprachen der Engel“?
In 1. Korinther 13 schreibt Paulus:
Wenn ich in den Sprachen der Menschen und der Engel rede, aber keine Liebe habe, so bin ich ein tönendes Erz geworden oder eine schallende Zimbel.
1. Korinther 13,1
Aus diesem Vers schließen einige, dass die Sprachenrede auch das Reden in Engelssprachen miteinschließt, die für uns Menschen unverständlich sind. Hier müssen wir allerdings erkennen, dass der Abschnitt in 1. Korinther 13 hypothetischen Charakter hat und sich mehr um die Vorherrschaft der Liebe als um die eigentliche Gabe der Sprachenrede dreht. Paulus sagt in diesen Versen also, dass selbst wenn er in der Lage wäre in Menschen- und auch in Engelssprachen zu reden, er seine Gabe ohne die Liebe nicht zweckgemäß einsetzen würde. Die Geistesgaben sind nämlich in erster Linie zur Erbauung und Zurüstung anderer gegeben worden (1. Kor. 14,1-25).
Des Weiteren ist anzumerken, dass wenn Engel mit Menschen in der Bibel kommunizierten, sie das in menschlichen Sprachen taten. Es ist von daher eher unwahrscheinlich, dass Paulus in diesem Vers meint, dass die Sprachenrede auch das Reden in Engelssprachen miteinschließt, zumal auch in Apostelgeschichte 2 nur menschliche Sprachen erwähnt werden.
Existiert die Sprachenrede heute noch?
In 1. Korinther 13 beantwortet Paulus auch die Frage nach dem dauerhaften Verbleib der Sprachenrede:
Die Liebe vergeht niemals; seien es aber Weissagungen, sie werden weggetan werden; seien es Sprachen, sie werden aufhören; sei es Erkenntnis, sie wird weggetan werden.
1. Korinther 13,8
Während Paulus in diesem Vers sagt, dass sowohl Weissagung als auch Erkenntnis „weggetan werden“ (gr. katargeo), sagt er über die Sprachenrede, dass sie „aufhören“ wird. Das griechische Wort pauo beschreibt ein eher langsames Ausklingen und wird beispielsweise auch in Apostelgeschichte 20 benutzt, um das Abklingen des Tumults in der Stadt Ephesus zu beschreiben („Nachdem aber der Tumult aufgehört hatte, ließ Paulus die Jünger kommen und ermahnte sie; und als er Abschied genommen hatte, ging er fort, um nach Mazedonien zu reisen.“ – Apg. 20,1). So werden also Weissagung und Erkenntnis plötzlich weggetan werden, wenn das Vollkommene gekommen ist (das Vollkommene ist in diesem Kontext entweder unsere Heimkehr zu Christus oder seine Wiederkunft, wenn wir „von Angesicht zu Angesicht“ erkennen), die Sprachenrede hingegen wird langsam aufhören, wenn sie ihren Zweck erfüllt hat.
Auch wenn Gott heute noch Menschen mit der Sprachenrede begaben kann, so hat sie doch ihren primären Zweck der Gerichtsverkündigung an das ungläubige Israel erfüllt und wird deshalb auch nicht mehr in demselben Maße gebraucht. Paulus erwähnt sie nicht mehr in seinen späteren Briefen und auch die Schriften der frühen Kirchenväter enthalten kaum Aussagen über sie.
Zusammenfassend kann man also sagen, dass die Sprachenrede eine vom Heiligen Geist gegebene Gabe ist, die vor allem in den ersten Gemeinden praktiziert wurde. Sie wurde gegeben, um auch den Nichtjuden die „großen Taten Gottes“ (Apg. 2,11) zu verkündigen und ihnen die gute Botschaft von Jesus Christus nahe zu bringen. Dabei rief Paulus die Korinther auf, sie nicht zum Selbstzweck zu gebrauchen (1. Kor. 14,12-13), sondern sie, wie die anderen Geistesgaben auch, zur Verherrlichung Christi einzusetzen. Der Heilige Geist macht nämlich nicht die Gaben an sich groß, sondern verherrlicht damit in erster Linie unseren Herrn Jesus (1. Kor. 12,3). Aus diesem Grund wollen auch wir in dieses Lob miteinstimmen und ihm die Ehre für sein Erlösungswerk geben: Er hat uns ja „für Gott erkauft aus jedem Stamm und jeder Sprache und jedem Volk und jeder Nation“ (Offb. 5,9).