Lehrt uns Römer 11 die geistliche Wiederherstellung Israels?

Heutzutage glauben viele Christen, dass die Nation Israel in einem tausendjährigen Reich unter Jesu Herrschaft geistlich wieder aufblühen wird. Inhaltlich wird dabei vor allem geglaubt:

  • Die Juden werden das verheißene Land Israel wieder vollständig in Besitz nehmen.
  • Ein Großteil von ihnen wird, am Ende des Zeitalters, zum Glauben an Christus kommen und sie werden in einem tausendjährigen Reich zum Segen für die ganze Welt werden.

Da diese Lehrmeinung jedoch weder von Jesus noch von den Aposteln klar gelehrt worden ist, versuchen die Vertreter der Wiederherstellungslehre ihre Sichtweise vor allem mit Römer 11 zu begründen:

Denn ich will nicht, Brüder, dass euch dieses Geheimnis unbekannt ist, damit ihr nicht euch selbst für klug haltet: Verstockung ist Israel zum Teil widerfahren, bis die Vollzahl der Nationen hineingekommen sein wird; und so wird ganz Israel gerettet werden.

Römer 11,25-26

Allerdings gibt es mehrere Punkte, die gegen eine solche Auslegung von Römer 11 sprechen:

  1. Der Kontext von Römer 11
  2. Der Urtext

Diese zwei Punkte wollen wir im Folgenden näher betrachten und die Frage nach der Wiederherstellung Israels biblisch bewerten.

(1) Der Kontext und Lehrfluss des Römerbriefes:

Der Römerbrief ist die systematischste Darlegung des Evangeliums in der Bibel. Vor allem in Römer 1-11 erklärt Paulus seinen Lesern die „Gute Nachricht“ von Jesus Christus, beginnend mit dem Zorn Gottes (Röm. 1,1-3,20), der Rechtfertigung durch den Glauben an Jesus Christus (Röm. 3,21-5,21) und der Heiligung der Gläubigen (Röm. 6,1-8,39). Römer 9-11 behandelt dann die Frage nach dem Verhältnis der Gläubigen zu der Nation Israel, welches im Alten Testament als das Volk Gottes bezeichnet wurde. Dabei zeigt Paulus in Röm. 9,6-8 auf, dass nicht die ethnischen Nachkommen Abrahams automatisch Kinder Gottes sind, sondern die Kinder des Geistes, also die an Jesus Gläubigen zum Israel Gottes – zum geistlichen Volk Gottes gerechnet werden. In Röm. 10 erklärt er weiter, dass der Glaube aus der Verkündigung kommt und Israel diese Verkündigung größtenteils abgelehnt hat (Röm 10,21).

Daraufhin wirft Paulus zu Beginn von Röm. 11 die logische Frage auf: „Hat denn Gott dann die Nation Israel komplett verstoßen, sodass keine Juden mehr gläubig werden?“ Diese Frage verneint Paulus, indem er aufzeigt, dass er ja selbst ein gläubiger Jude aus dem Stamm Benjamins ist. Demzufolge ist auch in der jetzigen Zeit (also schon zu Paulus Lebzeiten) weiterhin ein jüdischer Überrest vorhanden, der zu den Gläubigen Nachkommen Abrahams gehört.

Was bedeutet der Kontext und Lehrfluss für Römer 11?

Römer 11 beschreibt uns also erstmal keinen Ablaufplan für endzeitliche Ereignisse. Darüber besteht bei Paulus an dieser Stelle keine Lehrabsicht. Anstelle dessen gibt er hier Aufschluss über den geistlichen Zustand der Nation Israel in dem jetzigen Zeitalter, und Israels Beziehung zu den Heidenchristen. Das ist vor allem an der dreimaligen Verwendung des Wortes νυν (übersetzt „jetzt“) zu erkennen, das in Paulus Zusammenfassung des Heilsratschlusses Gottes eine zeitliche Einordnung ermöglicht (Röm. 11,29-32).

Auch sollte man erwarten, dass Paulus, falls er eine Wiederherstellung Israels in einem tausendjährigen Reich erwartet, seine Leser in den entscheidenden Kapiteln über Israel (Röm. 9-11) informieren würde (wenn nicht hier, wo dann sonst?). Dies ist jedoch auch nicht der Fall. Anstelle dessen schließt er Römer 11 mit einem Lobpreis, in dem er Gott für seinen Rettungsplan, der sowohl Juden als auch Heiden miteinschließt, anbetet.

(2) Der Urtext unterstützt keine Wiederherstellung:

Einige Übersetzungen geben Vers 26 mit „und dann wird ganz Israel gerettet werden“ wieder. Dabei wird das griechische Wort οὕτω mit dem Wort „dann“ übersetzt, um eine zeitliche Abfolge auszudrücken: Zuerst soll also die Vollzahl der Heiden gerettet werden und anschließend wird sich Gott wieder den Juden zuwenden. Allerdings drückt das Wort οὕτω / οὕτως keine zeitliche, sondern eine logische Abfolge aus. Es wird zum Beispiel auch in Matthäus 24,37 und Lukas 11,30 gebraucht und kann in diesem Kontext am besten mit „auf diese Weise“ übersetzt werden. Verse 25 und 26 sagen also aus, dass Israel zum Teil Verstockung widerfahren ist, damit auch die Heiden Rettung erfahren dürfen. Gott hat also sowohl Heiden als auch Juden zum Teil verstockt, um sich beider Gruppen zu erbarmen und so „auf diese Weise“ auch alle Erwählten aus dem jüdischen Volk zu retten. So gibt es neben der „Vollzahl der Nationen“ (Vers 25) auch eine „Vollzahl der Juden“, eben „ganz Israel“ (Vers 26), denen Gott im jetzigen Zeitalter durch den Glauben an Jesus Rettung zukommen lässt.

An dieser Stelle wird immer wieder auf Vers 31 hingewiesen, wo anscheinend steht, dass Israel zukünftig Barmherzigkeit erfahren soll. Auch hier ist ein Blick in den besser überlieferten Urtext sinnvoll. Gemäß dem biblisch-akademisch anerkannten Society of Biblical Literature Greek New Testament (SBLGNT), der auf dem Nestle-Aland Text basiert, einer Texttradition, die über 5000 Bibelmanuskripte berücksichtigt (vgl.: Der Grundtext der Schlachter 2000, der Textus Receptus, basiert lediglich auf 7 Manuskripten), wird in Vers 31 das Wort „jetzt“ dreimal benutzt:

„Denn wie [ihr] einst Gott nicht gehorcht habt, jetzt aber Erbarmen gefunden habt infolge ihres Ungehorsams, so sind jetzt auch [sie] dem euch <geschenkten> Erbarmen <gegenüber> ungehorsam gewesen, damit auch [sie] jetzt Erbarmen finden.“

Römer 11, 31 (Übersetzung gemäß Elberfelder 2006)

Zunächst einmal wird es verwendet, um zu beschreiben, dass die Heiden infolge der jüdischen Ablehnung jetzt, also in dieser Haushaltung, Erbarmen gefunden haben. Folglich sind die Juden auch in der Jetztzeit größtenteils ungläubig, um durch den von Gott geschenkten Glauben der Heiden, zur Eifersucht gereizt zu werden (Verse 11-15) und dadurch ebenfalls jetzt Erbarmen zu finden. Paulus bezieht also die Aussagen über die Errettung eines Israelitischen Überrestes aus Vers 25-32 auf die jetzige Haushaltung und nicht auf eine zukünftige Epoche.

Das bedeutet also, dass Römer 11 kein zukünftiges Endzeitprogramm für die Juden beschreibt, sondern ihren geistlichen Zustand und ihre Teil-Verstockung bis in die heutige Zeit erklärt. Die Gemeinde ist demzufolge auch kein Einschub in Gottes Heilsplan, sondern mit den gläubigen Juden teil Abrahams geistlicher Nachkommenschaft. Auch wenn allen jüdischen Nachkommen Abrahams „die Sohnschaft … die Herrlichkeit und die Bündnisse und die Gesetzgebung und der Dienst und die Verheißungen“ (Röm. 9,4) gegeben worden sind, so sind nur diejenigen, die im Glauben an den Herrn Jesus Christus stehen, geistliche Nachkommen Abrahams und gehören somit zu Gottes wahrem Volk.